Arno Nadel
Arno Nadel wurde am 3. Oktober 1878 in Wilna/Vilnius geboren und emigrierte 1890 nach Königsberg, wo er unter Kantor Eduard Birnbaum seine musikalische Ausbildung erhielt und unter dem Komponisten Robert Schwalm lernte. Seit 1895 lebte Nadel in Berlin. Er war an der Jüdischen Lehrer-Bildungsanstalt eingeschrieben und belegte Kompositionsunterricht bei Ludwig Mendelssohn und Max Loewengard.
Im Laufe der nächsten Jahre trat Nadel als Autor von Hunderten von Artikeln, Aufsätzen, Essays und Rezensionen hervor, die sich größtenteils mit Musik beschäftigten. Seit 1904 schrieb er Musikbeiträge und Musikkritiken für „Ost und West“. Vor allem seine Bearbeitungen von Volksmelodien, von denen mehr als hundert im Archiv der Jewish National Library erhalten geblieben sind, erregten große Aufmerksamkeit und wurden in eigenen Konzerten des „Ost und West“ aufgeführt. Obwohl er anfänglich primär für „Ost und West“ Texte verfasste, schrieb Nadel auch für die „Vossische Zeitung“, den „Vorwärts“ sowie die „Freiheit“ und publizierte außerdem Artikel für die „Enzyclopaedia Judaica“ und das „Jüdische Lexikon“. Weitere Beiträge zu Religionsfragen und Politik erschienen in der von Martin Buber herausgegebenen Schrift „Der Jude“, im „Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ und in den „Sozialistischen Monatsheften“. Aus Nadels Feder stammte auch einer der ersten Artikel zu Arnold Schönberg, den er 1912 in „Die Musik“ unter dem Titel „Arnold Schönberg. Wesenhafte Richtlinien in der neueren Musik“ veröffentlichte. Außerdem war er ein reger Verfasser von Musikanthologien, darunter die 1919 erschienenen „Jontefflieder“, die er „in Ergebenheit“ seinem Lehrer Eduard Birnbaum widmete, seine „Jüdischen Liebeslieder (Volkslieder)“ von 1923 und die 1937 vom Schocken Verlag herausgegebenen „Semirot Shabbat/Die häuslichen Sabbatgesänge“.
Auf der Kulturtagung des Reichsverbandes der Jüdischen Kulturbunde in Deutschland hielt Nadel 1936 einen richtungsweisenden Vortrag über „Jüdische Liturgie und jüdisches Volkslied“. Als Komponist schuf er zahlreiche liturgische Kompositionen und Orgelwerke für Synagogen sowie Chorwerke. 1934 komponierte er die Musik für Stefan Zweigs „Jeremias“, der unter Fritz Jessner im Berliner Jüdischen Kulturbund aufgeführt wurde. Unter anderem rezensierte Ludwig Misch die Aufführung begeistert am 13. Oktober 1934 im „Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“.
Seit 1916 wirkte Nadel als Chorleiter der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Anfänglich arbeitete er in der Synagoge am Kottbusser Ufer, bevor er 1931 an die Alte Synagoge in der Heidereuter Straße wechselte und danach für die Synagoge in der Pestalozzistraße und die Synagoge in der Münchener Straße tätig wurde. Im Auftrag der Jüdischen Gemeinde sammelte er Quellen zur jüdischen Musik und stellte in mehr als 16-jähriger Arbeit bis 1938 sieben Bände zusammen. Diese sollten ursprünglich als wegweisende Publikation unter dem Titel „Kompendium Hallelujah. Gesänge für den jüdischen Gottesdienst“ erscheinen und der Lehre und Praxis in der Synagoge dienen. Das Werk konnte nach Vollendung nicht mehr gedruckt werden und gilt seither als verschollen. Einzelne Stücke sind im Archiv des Gratz College of Jewish Studies in Philadelphia erhalten. Außerdem enthält ein im Archiv des Leo Baeck Instituts bewahrter und an Nadels Tochter Detta Okun adressierter Brief von 1946 Hinweise zu Bänden, die möglicherweise den Krieg überstanden haben. Doch danach verliert sich ihre Spur.
Nadels Kreativität erschöpfte sich jedoch nicht in der Musik. Er war ein aktiver Maler und Illustrator, dessen Werke in zahlreichen Ausstellungen gezeigt wurden. Am bekanntesten ist wohl die 1928 feierlich eröffnete Ausstellung in München anlässlich seines 50. Geburtstags. Außerdem war Nadel ein bekannter Dichter und verfasste zahlreiche Theaterstücke. Sein erster Band mit Gedichten und Aphorismen „Aus vorletzten und letzten Gründen“ erschien 1909. Von 1914 bis 1920 schrieb er an seinem Hauptwerk: „Der Ton. Die Lehre von Gott und Leben“, das 1921 in neun Bänden herausgegeben wurde und mehr als zweitausend Gedichte umfasste. Die Veröffentlichung seines zweiten Monumentalwerks, der Gedichtsammlung „Der weissagende Dionysos“, erlebte Nadel nicht mehr. Er hatte es 1941 fertiggestellt, aber es wurde erst 1959 gedruckt.
Nadels Werke erschienen am 1. September 1935 auf der „Goebbels-Liste“, und 1938 wurde er für mehrere Wochen im KZ Sachsenhausen inhaftiert. Selbst Albert Einstein bemühte sich 1939 in einem Brief an den Rabbiner Solomon Goldman, den damaligen Vorsitzenden der Zionist Organization of Amerika, um die Einreiseerlaubnis Nadels in die USA. Zwar besaßen er und seine Frau Anna (geb. Guhrauer) 1940 nachweislich Affidavits, doch gelang ihnen die Ausreise nicht mehr. 1941 mussten sie in ein „Judenhaus“ ziehen, und ab 1942 leistete Nadel Zwangsarbeit in der Bibliothek des Reichssicherheitshauptamtes. Die dabei erlittenen Schikanen beim Katalogisieren jüdischer Literatur aus beschlagnahmten Bibliotheken sowie dem Verladen der teils zentnerschweren Bücherkisten auf Lastwagen schilderte er ausführlich in seinen Tagebüchern. 1943 wurden Nadel und seine Frau nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Obwohl er sich schon vor seiner zwangsweisen Umsiedlung um den Erhalt seiner umfangreichen Sammlungen bemühte, blieben nur Bruchstücke erhalten. Teile der Bibliothek und die von Eric Mandell weitergeführte Musiksammlung liegen im Gratz College of Jewish Studies in Philadelphia und der National Library in Israel. Der Rest seines Archivs und seine Tagebücher wurden von dem befreundeten Maler Ewald Vetter in dessen Privathaus aufbewahrt und später an Nadels Tochter Detta nach New York geschickt, die sie dem Leo Baeck Institut übergab.
Lebensstationen:
Wilna/Vilnius - Königsberg - Berlin - Auschwitz
Bilder :
Videos :
The Children's Haggadah (Curators Corner #24)
Arno Nadel - Fünf Volkslieder
Literaturhinweise :
Arno Nadel, in: Thesaurus of Jewish Music of the Jewish Music Research Centre, Hebrew University of Jerusalem (http://www.jewish-music.huji.ac.il/content/arno-nadel)
Burghardt, Barbara. Person of the month December 2014: Arno Nadel, Europäisches Zentrum für Jüdische Musik, Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (http://www.ezjm.hmtm-hannover.de/en/druckansicht/library/person-of-the-month/december-2014/?no_cache=1)
Schipperges, Thomas. Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM), 2008, aktualisiert am 23. Nov. 2010, (http://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002835)
Geiger, Friedrich. Die „Goebbels-Liste“ vom 1. September 1935: Eine Quelle zur Komponistenverfolgung im NS-Staat, in: Archiv für Musikwissenschaft, Jg. 59, H. 2, Stuttgart: Steiner Verlag, 2002, S. 104-112.
Akademie der Künste (Hrsg.). Geschlossene Vorstellung: Der Jüdische Kulturbund in Deutschland 1933-1941, Berlin: Hentrich & Hentrich, 1992.
Weber, Horst (Hrsg.). Musik in der Emigration 1933-1945. Verfolgung - Vertreibung - Rückwirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler, 1994.
Nemtsov, Jascha. Deutsch-jüdische Identität und Überlebenskampf: Jüdische Komponisten im Berlin der NS-Zeit, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2010.
Nemtsov, Jascha. Arno Nadel: Sein Beitrag zur jüdischen Musikkultur, hrsg. v. Centrum Judaicum, Berlin: Hentrich & Hentrich, 2008.
Bestände in weiteren Archiven :
Goethe Universität Frankfurt a.M. – Freimann-Sammlung, zuletzt abgerufen am 4. Juli 2016, http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/search/quick?query=arno+nadel
National Library of Israel, Jerusalem, Sammlung Arno Nadel (Sign.: ARC. Ms. Var. 469 (L)), zuletzt abgerufen am 4. Juli 2016, http://web.nli.org.il/
Gratz College of Jewish Studies in Philadelphia, Schreiber Jewish Music Library, Eric Mandell Collection of Jewish Music.
Hebrew Union College, Jewish Institute of Religion, Klau Library, Brookdale Center, Hugo Chayim Adler Papers.
New York Public Library for the Performing Arts, Music Division, Henry Cowell Collection.